Vom kollektiven zum gesellschaftlichen Eigentum: Genossenschaften in Venezuela
Wir lernen alle von allen
Kaum betrete ich das Gemeinschaftszentrum »Sala de Batalla Alicia Benitez« in Petare, einem Armenstadtteil in Groß-Caracas, kommt mir Lorenzo Martini strahlend entgegen: »Unsere Kommunen-Genossenschaften, die wir das letzte Mal, als du hier warst, geplant haben, arbeiten schon!«
Ende 2009 und Anfang 2010 hatte ich die selbstorganisierten Strukturen in dem Stadtteil, der gemeinhin als »Lateinamerikas größte Armensiedlung« gilt, mehrmals besucht. 30 Kommunale Räte (Consejos Comunales) – eine auf Versammlungen und direkter Demokratie beruhende lokale Selbstverwaltung – sind dabei, sich zu einer Kommune (Comuna) zusammenzuschließen. Die Namensverwandtschaft zur Pariser Kommune ist nicht zufällig. Auch in den venezolanischen Kommunen soll alles per Rätesystem von der Basis entschieden werden.
Die Räte, die sich am Aufbau der gemeinsamen Kommune »Achse von Maca« beteiligen, haben in den vergangenen Jahren bereits etliche kommunale Genossenschaften gegründet, darunter Bäckereien, eine Schusterei, einen
Gemüsegarten und einige andere kleine Unternehmen. Diese Art Genossenschaft ist nicht Eigentum der darin arbeitenden Genossenschafter
und Genossenschafterinnen, sondern gesellschaftliches Eigentum unter direkter Verwaltung der Bewohner, in diesen Fällen der gesamten Nachbarschaft.
Die entscheidet in ihrem Kommunalen Rat darüber, welche Betriebe gebraucht werden, welche Struktur sie haben, wer darin arbeitet und was mit dem erwirtschafteten Überschuss geschieht. Die zwei neu gegründeten Genossenschaften der Kommune sind eine Vertriebsstelle für das zum Kochen verwendete Flüssiggas und ein kleines Transportunternehmen, das die Bewohner und Bewohnerinnen der höher gelegenen Stadtviertel in umgebauten und mit Sitzbänken ausgestatteten Jeeps hinauf und herunter fährt.
Beide wurden auf der Ebene der Kommune gegründet, da ihr Aktionsradius weit über den der einzelnen Kommunalen Räte hinausgeht. Lorenzo Martini arbeitet mittlerweile als Fahrer und Buchhalter in der Transportgenossenschaft. Eigentlich ist er Anwalt, spezialisiert auf Unternehmensrecht, doch da er aus einem armen Viertelstammt, hat er nie eine bessere Anstellung gefunden. Er arbeitete als Firmenanwalt eines mittleren Unternehmens. Sein Lohn war schlecht und er verbrachte den ganzen Tag in einem kleinen, stickigen Büro. Seine wahre Leidenschaft in den vergangenen Jahren war, sich für seinen Stadtteil und seine Nachbarschaft einzusetzen. So beteiligte er sich von Anbeginn an der Gründung der kommunalen Genossenschaften und übernahm gerne die Arbeit als Fahrer.
Die Diskussionen darüber, welche Genossenschaften es zuerst zu gründen galt und wie ihre Organisationsstruktur aussehen sollte, dauerten mehrere Monate. Zunächst wurde auf den Versammlungen der beteiligten Räte darüber diskutiert, welche Betriebe am dringendsten gebraucht werden. Dann gab es einen mehrmonatigen Workshop, in dem alle Interessierten über die Struktur und die Aufgaben der eigenen kommunalen Genossenschaften diskutierten. Für den Workshop kam Rafael Falcón vom Ministerium für Kommunen einmal die Woche in das Gemeinschaftszentrum »Sala de Batalla Alicia Benitez« und gab den Debatten von etwa 25 bis 30 Anwohnern und Anwohnerinnen eine Orientierung. Gesprochen wurde über hierarchische und nichthierarchische Unternehmens-modelle, über die soziale Aufgabe der Betriebe im Stadtteil, die Notwendigkeit einer Differenzierung der Aufgaben, ohne daraus zugleich eine Hierarchisierung abzuleiten, über Konsensdemokratie und vieles mehr. In den Diskussionen darum, wer in den künftigen Genossenschaften arbeiten sollte, legten alle viel Wert darauf, dass es sich um Personen handeln müsse, die auch vorbereitet sind, die entsprechenden Aufgaben zu übernehmen. Zugleich ging es darum, kein elitäres Spezialistentum aufkommen zu lassen. Die Notwendigkeit ständigen gegenseitigen Lehrens und Lernens in den Genossenschaften wurde betont. Wie die Basisaktivistin und pensionierte Lehrerin Elodia Rivero in den Debatten unterstrich: »Wir müssen alle lernen ... Paolo Freire redet in seiner ›Pädagogik der Unterdrückten‹ viel davon: Wir lernen alle von allen, wir lernen alle gemeinsam.« Die Ergebnisse des Workshops wurden abermals in die Versammlungen der Kommunalen Räte getragen. Ende 2010, mehr als ein Jahr nach Beginn der Diskussionen, stand das Resultat fest: Die Mehrheit der Anwohner der 30 Kommunalen Räte befand, die Vertriebsstelle für Flüssiggaszylinder und das örtliche Transportunternehmegenießen Priorität. Der Vertrieb der Flüssiggaszylinder wird vom staatlichen Erdölkonzern PDVSA durch ein Programm zum Aufbau eines landesweiten, örtlich selbstverwalteten Vertriebsnetzes für Flüssiggas namens »Gas Comunal« unterstützt.
Gas ist in Venezuela ein Nebenprodukt der Ölförderung und äußerstbillig. Doch der Vertrieb befand sich lange unter Kontrolle privater Unternehmen, die es zu einem sehr hohen Preis verkauften und schwere Metallzylinder verwenden.
Die Preise bei »Gas Comunal « liegen dagegen bei nur etwa 20 Prozent des Verkaufspreises der privaten Konkurrenz. Zudem fabrizierte PDVSA neue,
leichte Kunststoffzylinder. PDVSA unterstützt die organisierten Nachbarschaften mit dem Bau eines Vertriebslagers und liefert das Gas, die Gemeinden kümmern sich um den Verkauf. So haben sie auch die Möglichkeit, gemeinsam zu entscheiden, wer aufgrund schwieriger sozialer Verhältnisse das Gas gratis erhält. »Bei uns sind es einige alleinerziehende Mütter, die laut Beschluss unserer Versammlungen das Gas unentgeltlich erhalten«, erläutert Elodia Rivero. »Der Vertrieb von Flüssiggas funktioniert seit April 2011 und wir hatten gleich von Anfang an genügend Einnahmen, um die laufenden Kosten und die Löhne der
vier Mitarbeiter zu bezahlen«, berichtet Lorenzo Martini stolz. »Und im Juni 2011 haben wir vom Staat sechs Jeeps bekommen, die für den Transport von 13 Personen umgebaut wurden. Wir haben gleich eine Transportroute von der letzten U-Bahn-Station bis in die am höchsten gelegenen Stadtteile begonnen«, erklärt Martini weiter. »Die Strecke wurde vorher von einem Privatunternehmen betrieben, das sich aber meist geweigert hat, Rentner unentgeltlich und
Schüler und Schülerinnen zum halben Preis zu befördern, wie es das Gesetz vorsieht.«
Das rapide Wachstum der Anzahl an Genossenschaften in Venezuela machte es unmöglich, rasch effektive Mechanismen zu entwickeln, um die unerfahrenen neuen Genossenschafter zu schulen und den korrekten Gebrauch der Fördergelder zu überprüfen. Angesichts der kontroversen Erfahrungen mit klassischen Genossenschaften begann die Nationale Kooperativenaufsicht SUNACOOP 2007, enger mit Kommunalen Räten zusammenzuarbeiten und das
Modell der Kommunalen Kooperativen vorzuschlagen. Bald griffen zahlreiche staatliche Institutionen das Modell auf und unterstützten die Entstehung solcher
Genossenschaften unter verschiedensten Namen: Kommunale Betriebe,
Kommunale Sozialistische Unternehmen, Unternehmen Sozialen Kommunalen Eigentums und viele mehr. Die Comuna Victoria Socialista im Armenstadtteil Antímano besteht beispielsweise aus 18 Kommunalen Räten und umfasst den
Sektor Carapita und einen Teil von Santa Ana. Mittels staatlicher Finanzierung
wurden 2010 fünf Betriebe »direkten kommunalen Eigentums « aufgebaut. Die Gewinne von Schweißerei, Bäckerei, Schreinerei, Textilverarbeitung und der Herstellung von Zementblöcken für den Wohnungsbau fließen kollektiven Entscheidungen folgend wieder in die Community.
Die Idee ist die der Entwicklung einer kommunalen Wirtschaft durch Förderung lokaler Projekte, die an vorhandenem Wissen und Ressourcen ansetzen. Lokale Produktions- und Konsumtionskreisläufe sollen den Gemeinschaften mehr Stabilität verleihen und eine Ökonomie bilden, die sich wesentlich in kommunalen Eigentum befindet. Pablo Arteaga, einer der Aktivisten der Kommune in Petare fasst zusammen: »Nach 40 und mehr Jahren repräsentativer Demokratie bleibt festzustellen, dass die Privatunternehmen gescheitert sind; vor allem bezüglich der Dienstleistungen. Die Kommunalen
Räte, die aus Theorie und Praxis die Funktion der Dienstleistungen kennen, haben sich vorgenommen, eine Lösung zu suchen. Das ist das, was wir hier tun, was nicht leicht ist, aber auch nicht unmöglich.
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