Review by Lotta Liest of Marina Sitrin and Dario Azzellini (2014), They Can’t Represent Us: Reinventing Democracy from Greece to Occupy (with a foreword by David Harvey), 2014, London and New York: Verso Books.
They Can’t Represent Us!
Irgendwo auf einer größeren Demonstration im Rhein-Main Gebiet hat ein Teilnehmer mal ein größeres Schild hochgehalten: „Ihr werdet euch noch wünschen, wir wären politikverdrossen!“, stand darauf. Was also ist mit den Leuten, die nichts von Parteien wissen wollen und sich dennoch als politisch bezeichnen? Was ist mit denen, die Plätze und Häuser besetzen und dabei sagen, sie hätten ein „Recht auf Stadt“? Mit denen, die sich in Gruppen zusammenschließen und bei Entscheidungen nicht nach Mehrheitsprinzip abstimmen wollen?
Marina Sitrin und Dario Azzelini haben ein Buch über Demokratie geschrieben, das eigentlich dazu ansetzt zu erklären, warum Demokratie in ihrer aktuellen Form nicht „demokratisch“ ist, Menschen also nicht dazu ermächtigt, selbst über ihr Leben zu entscheiden. Diese Situation illustrieren beispielhaft all die grinsenden Gesichter und Parolen, mit denen die Mainzer Innenstadt kürzlich zugepflastert war, um einen Teil der Anwohner_innenschaft dazu zu bringen, an einem bestimmten Tag Kreuzchen auf ein Papier zu machen.
Gleichberechtigung und Selbstbestimmung
Das 2014 erschienene Buch von Sitrin und Azzelini trägt den Titel „They Can´t Represent Us! Reinventing Democracy from Greece to Occupy“. In sieben faszinierenden Kapiteln dreht sich darin alles um demokratische Entscheidungsfindung. Das erste befasst sich mit einer Reihe von Begriffen wie „Horizontalism“ (Horizontalität im Sinne von Hierarchiefreiheit), „Popular Power“, der Souveränität der Menschen, und mit Konzepten wie Autonomie oder Selbstverwaltung. Hier geht es also zunächst um die Selbstermächtigung, die in einer wirklich demokratischen Gesellschaft stattfinden würde, wenn Demokratie bedeutet, dass jeder Mensch gleich ist und selbstbestimmt Leben kann. Im zweiten Kapitel erklären Sitrin und Azzelini dann, warum die liberale repräsentative Demokratie nicht in diesem Sinne ‘demokratisch’ ist.
Im Anschluss begeben sich die Autoren auf eine Reise: Eine Reise von Griechenland über Spanien bis nach New York in den Zuccotti Park zu Occupy; weiter durch Argentinien und Venezuela – zu all den Orten, wo Menschen die Konsequenzen gezogen haben aus der Hoffnung auf Gleichberechtigung und Selbstbestimmung. Die Kritik an repräsentativer Politik setzen die Autor_innen im Buch auch gleich um: Sitrin und Azzelini komponieren die Kapitel aus Interviews, die sie mit Aktivist_innen aus den von ihnen bereisten Orten geführt haben.
Nachbarschaftsversammlungen und Tauschnetzwerke
Da ist zum Beispiel Debbie aus Thessaloniki. Sie erzählt von einem selbstorganisierten Krankenhaus, wo alle Menschen, die keinen Zugang zum Gesundheitssystem haben, umsonst medizinisch versorgt werden. Oder Anestis: Er spricht von der Nachbarschaftsversammlung im Stadtteil Peristeri, die sich kollektiv einer Steuer auf den Stromverbrauch widersetzt. Theo aus Thessaloniki ist Mitglied eines Tauschnetzwerks und des autonomen Kollektivbetriebs Micropolis und gibt praktische Beispiele für die Konzepte aus dem ersten Kapitel des Buches. Und Fani erzählt, wie die soziale Bewegung nach den großen Platzbesetzungen 2011 in den darauf folgenden Jahren in die Nachbarschaften gewandert ist, um dort den Alltag selbstbestimmt zu gestalten und Widerstand zu leisten.
Aus Spanien hören wir, wie direkte Entscheidungsfindung mit mehreren Tausend Teilnehmer_innen auf den Plätzen der Stadt stattfinden konnte, welche Probleme es dabei gab und wie sich echte Demokratie anfühlt. Und die Reise durch eine Welt, in der es praktische Antworten auf abstrakte Systemkritik gibt, geht immer weiter. “Wow, sowas kann es hier einfach nicht geben”, denkt sich der lesende Kopf und schaut aus dem Fenster auf eine Straße mit zerrissenen Wahlplakaten. Kaum zu glauben, dass wir in derselben „Demokratie“ leben, wie all diese widerständigen, kreativen Menschen, die aus diesem Buch zu uns sprechen.
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