Arbeiterselbstkontrolle als soziale Bewegung

»Beziehungsweise Betriebsbesetzung«

Dario Azzellini (2019): „Vom Protest zum sozialen Prozess. Betriebsbesetzungen und Arbeiten in Selbstverwaltung“. VSA-Verlag Hamburg, 150 Seiten, 12,80 Euro, ISBN 978-389965-826-2

In den letzten Monaten wurde in linken Kreisen wieder verstärkt über weltweite Aufstände diskutiert. Der Anlass waren anhaltende Massenproteste auf den verschiedenen Kontinenten. Da werden Proteste in Hongkong, Irak, Iran, Ecuador, Chile Libanon schnell aneinandergereiht. Dabei besteht die Gefahr, dass die jeweiligen Besonderheiten der Proteste in den Hintergrund treten. Zudem fällt die fast völlige Abwesenheit der ArbeiterInnenklasse in der medialen Berichterstattung über die .….

.…. Proteste auf. Da verdient ein Buch von Dario Azzellini mehr Aufmerksamkeit, dass er unter dem Titel „Vom Protest zum sozialen Prozess“ im VSA-Verlag herausgegeben hat. Auf knapp 150 Seiten hat Azzellini einen guten Überblick über die selbstverwalteten Betriebe in Frankreich, Italien, Griechenland, Brasilien, Argentinien, Venezuela, Ex-Jugoslawien, den USA, der Türkei und Ägypten gegeben. (Am Rande erwähnt wird auch Thüringen: 2007 gab es in Nordhausen das kurzlebige Projekt „Strike Bike“ – Fahrradproduktion in Belegschaftshand). Azzellini verwendet in dem Buch durchgehend den Terminus „rückeroberte Betriebe unter ArbeiterInnenkontrolle (RBA) und führt den Begriff in der Einleitung so ein: „Als RBA werden Betriebe bezeichnet, die zuvor als kapitalistisches Unternehmen existierten und deren Schließung oder Bankrott zu einem Kampf der ArbeiterInnen um eine Übernahme unter ArbeiterInnenselbstverwaltung geführt hat“ (S. 8). Die KollegInnen machten einen Prozess durch, den Azzellini bei allen von ihm beschriebenen Betrieben beobachtet hat: „Im Laufe des Kampfes entwickeln und übernehmen die meisten Betriebe egalitäre und direktdemokratische Praktiken und Strukturen und bauen Beziehungen zu anderen sozialen Bewegungen und kämpfenden ArbeiterInnen auf“ (S. 9). Azzellini beschreibt den langen Kampf der Belegschaft gegen die drohende Schließung, der bei den verbliebenen ArbeiterInnen zu einen gesteigerten Selbstbewusstsein geführt hat: „Wir haben uns gegen Milliardäre erhoben. Sie haben gesagt, dass wir verrückt sind. Aber letztlich hat sich unser Wahnsinn ausgezahlt“, wird im Buch ein Beschäftigter von Scop Ti, einer rückeroberten Teebeutelfabrik bei Marseille, zitiert (S. 28).

Mühen der Ebene

Allerdings verschweigt das Buch auch die Niederlagen nicht. Ein trauriges Beispiel ist der Pharmabetrieb Jugoremdija im serbischen Zrenjanin. Nach 2007 gelang es den ArbeiterInnen, den von den Eigentümern in einen betrügerischen Bankrott geführten Betrieb in Eigenregie zu führen. Doch in der Belegschaft kam es zu Spannungen zwischen Beschäftigten, die noch aus früheren Zeiten Anteile an der Fabrik besaßen, und anderen, die dort nur ihre Arbeitskraft verkauften. Als dann die Banken keine Kredite mehr gaben, musste der Betrieb Insolvenz anmelden und steht seither unter gerichtlicher Zwangsverwaltung. Auch in der Textilfabrik Kazova Tekstil in Istanbul eskalierte ein Streit zwischen einigen Beschäftigten und einer von anderen Teilen der Belegschaft favorisierten kommunistischen Gruppe, die die ArbeiterInnen in ihrem Kampf sehr unterstützte. Die von der türkischen Regierung angedrohte Repression hat diese Auseinandersetzung verstärkt. Doch auch erfolgreiche RBA wie Scop Ti müssen sich auf dem Markt behaupten. Azzellini geht auf diese Problematik ein und formuliert sehr vorsichtig „dass die RBA weder ihre Beziehungen zum Markt noch zum Staat auflösen können“ (S. 111). Daher ist es auch etwas zweckoptimistisch, wenn der Autor nur wenige Kapitel später schreibt: „Die Arbeitskraft der ArbeiterInnen eines RBA wird durch und für das Kollektiv genutzt. Arbeit hört auf eine Last zu sein und wird zu einem Synonym der Würde, des Selbstbewusstseins und der Selbstentfaltung“ (S. 115). Da hätte man sich bei der Lektüre des Buches gewünscht, dass Azzellini auf diese Alltagsprobleme von selbstverwalteten Fabriken im Kapitalismus noch ausführlicher eingeht. Das gilt auch für das Kapitel zu den rückeroberten Betrieben in Venezuela. Schließlich gehörte Azzellini zu den wenigen ForscherInnen, die bei der Beurteilung des bolivarischen Prozesses nach dem Regierungsantritt von Hugo Chavez das Augenmerk auf die Selbstorganisation von Teilen der Bevölkerung in den Stadtteilen, aber auch in den Fabriken gelegt haben. Gerade jetzt, wo in fast allen Medien nur von der Krise in Venezuela die Rede ist, stellt sich die Frage, welche Rolle diese Ansätze von Selbstorganisation der Bevölkerung heute in Venezuela spielen und ob sie nicht dafür gesorgt haben, dass der rechte Régime-Change dort, anders als in Bolivien, bisher verhindert wurde. Daher enttäuscht es etwas, wenn das entsprechende Kapitel mit dem Satz eingeleitet wird: „In Venezuela ist die Situation wiederum ganz anders und viel zu komplex, um hier umfassend dargestellt werden zu können“ (S. 87). Diese Kritik schmälert allerdings nicht das Verdienst von Azzellini, mit seinem Buch einen komprimierten Überblick über selbstverwaltete Betriebe weltweit gegeben zu haben.

Lohnarbeit oder Commons?

Im dritten Kapitel beschäftigt sich der Autor mit der Frage, ob es sich bei der in den rückeroberten Betrieben geleisteten Arbeit um Commens handelt. Damit handelt es sich um gemeinschaftlich hergestellte Produkte und Ressourcen, die nicht dem kapitalistischen Verwertungszwang unterworfen ist. Hier liefert der Autor auch mit Verweis auf den Arbeitsbegriff von Marx wichtige Bausteine für eine weitere Diskussion. Schließlich betont Azzellini klar: „Lohnarbeit an und für sich kann nicht als Praxis des Commoning organisiert werden“ (S. 99). Daraus ergibt sich die Frage, ob diese Aussage nicht auch für die selbstverwalteten Betriebe gilt, solange sie für den kapitalistischen Markt produzieren müssen.

Für Diskussionsstoff dürfte auch das letzte Kapitel sorgen, in dem Azzellini die selbstverwalteten Betriebe in den Zyklus der globalen Proteste des letzten Jahrzehnts einordnet. Damit zeigt er nicht nur die Rolle der in der Debatte oft vernachlässigten Kämpfe in den Betrieben auf. In einer Fußnote macht er eine wichtige Einschränkung bei der Frage, welche Bewegungen dazu gehören:

„So gehört das Beispiel des Maidan in der Ukraine, eine Platzbesetzung, die in eine nationalchauvinistische bis faschistische Mobilisierung abkippte, nicht in diese Reihe. Die Anerkennung der Gleichheit bei aller Unterschiedlichkeit ist eine der wesentlichen Grundlagen der neuen globalen Bewegung. Rassistische, faschistische oder nationalchauvinistische Parolen waren auf allen anderen Plätzen ausgeschlossen. Am Maidan waren sie von Beginn an (minoritär) präsent und wurden toleriert. Insofern war der Maidan nicht Ausdruck der neuen globalen Bewegung“ (S. 118/119).

Das ist eine wichtige Klarstellung, in einer Zeit, in der in machen linken Debattenbeiträge wieder von der globalen sozialen Bewegung von Hongkong über Ecuador, dem Iran, Irak, Libanon geschwärmt wird. Dabei wird eben ausgeblendet, dass es sich dabei auch um tendenziell rechte oder, wie in Hongkong, um Bewegungen handeln kann, in denen durch Anrufer zweifelhafter Beschützer verteidigt werden sollen. Peter Nowak


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