Aktuelle Analyse zu rückeroberten Betrieben. Gespräch mit Dario Azzellini
„Sie sind nicht nur Arbeitskräfte“
AT: Du dokumentierst in deiner Arbeit rückeroberte Betriebe in Europa und Lateinamerika. Ist das so bewusst geographisch gewählt, oder gibt es in den anderen Teilen der Welt weniger Beispiele?
DA: Nein, es gibt tatsächlich überall Beispiele auf der Welt. Ich wähle nur nach Sprachen, die ich gut beherrsche. Ich kann leider kein Chinesisch und von daher ist es echt schwer, da was rauszufinden. Was wir wissen, ist, dass es auch dort Betriebsbesetzungen um die 2000er Wende gab, als die große Privatisierungswelle war. Dabei haben auch einige besetzte Betriebe durchgesetzt, Genossenschaften zu werden.
Es ist aber unglaublich schwer, da nähere Informationen zu bekommen. Es gab im Zuge des „arabischen Frühlings“ in ganz Nordafrika Betriebsbesetzungen und Übernahmen, es gab sie in südostasiatischen Ländern, es gab sie auch in anderen Weltregionen. In Afrika gibt es diesbezüglich eine gesamte Tradition, da es in dieser Region starke Sozialismusbewegungen gab mit Betrieben, die auf Selbstverwaltung, Genossenschaftswesen und Kollektivität beruhen: Von der „Ujamaa“-Selbstverwaltungsbewegung in Tansania, über andere Konzepte in Tansania, Burkina Faso, in vielen anderen Gegenden. Es ist immer die Frage, welche Informationen zugänglich sind. Ich habe halt immer zu Lateinamerika und Europa gearbeitet, was diese Betriebsübernahmen oder Besetzungen und Selbstverwaltung betrifft. Mit der Zeit habe ich das immer weiter ausgeweitet, auch historisch, und neue Weltregionen dazu genommen. Zur Zeit habe ich mit Marcelo Vieta aus Kanada, der sich schwerpunktmäßig mit Argentinien beschäftigt hat, ein Buch für Routledge fertig gestellt, wo wir versuchen, die Arbeiter:innenselbstverwaltung, die lokale Selbstverwaltung und Commons (Gemeinschaftsgüter) zusammen zu denken und so einen weltweiten Überblick zu geben, wobei das, wie gesagt sehr schwer und sehr umfassend ist. Wir dürfen nicht vergessen, dass in den 60er, 70er Jahren in ganz vielen Ländern diese Ideen zum Teil staatliche Politik war, von Jamaica bis Zypern. In einigen afrikanischen Ländern war das ein Teil der Entkolonialisierungsprozesse usw. Also eigentlich gab es das Thema immer, nur, wer soll die Geschichte erzählen? Wenn wir in einem System leben, wo jeder davon lebt, dass er andere vertritt, nämlich Parteien, Gewerkschaften usw., dann begünstigt das nicht grade Erzählungen von Selbstverwaltungen oder von Eigeninitiative, weil das ja zeigen könnte, dass diese Vertretung gar nicht immer notwendig ist, oder dass sie zum Teil auch nicht unbedingt positiv in diesen Konstellationen agiert hat.
MN: Ich habe nur eine Ergänzung dazu, dass wir berücksichtigen, wenn wir von Rückeroberung von Betrieben sprechen, dass das ein Strang ist im Rahmen von solidarischer Ökonomie, Genossenschaften und anderen Formen. Dann ist selbst dann, wenn wir nur auf Deutschland gucken, die Frage der solidarischen Ökonomie weiterentwickelt als tatsächlich rückeroberte Betriebe in Deutschland zu finden waren, oder gegenwärtig auch noch versucht werden. Also „solidarische Ökonomie“ als oberes Stichwort ist natürlich ein wichtiger Anhaltspunkt für die Gesamtentwicklung.
Rolle der Gewerkschaften
AT: In Deutschland machen die Gewerkschaften in der Regel nur Sozialpartnerschaftspolitik und beschäftigen sich kaum mit Fragen der Erhaltung der Betriebe in anderen Formen von Eigentum und Produktion. Ist das in anderen Ländern anders, gibt es bessere Beispiele?
DA: Es gibt bessere Beispiele, wobei die Gewerkschaften grundsätzlich erstmal, wie auch Marx sagte, für die Mediation zwischen Arbeit und Kapital zuständig sind. Bei einer Betriebsbesetzung und Übernahme ist weniger Mediation dabei, sondern das sind direkte Aktionen und eine direkte Konfrontation. In einem sehr traditionellen Gewerkschaftsverständnis müssen wir unterscheiden, auf welche Epochen und welch historisches Gewerkschaftsverständnis wir eingehen. Gewerkschaften sind ja anders entstanden und auch die Genossenschaften kamen ursprünglich aus der Arbeiter:innenbewegung, um gegen die Defizite des Kapitalismus vorzugehen, also beispielsweise selbstverwaltete Krankenkassen über Begräbniskassen und alles Mögliche andere. Auch das deutsche Sozialsystem beruht darauf, dass Bismarck die Genossenschaftskassen mehr oder weniger enteignet hat und darauf den Sozialstaat aufgebaut hat. Sagen wir es mal so, je institutionalisierter und verregelt der Arbeitskonflikt ist, desto schwerer oder desto seltener ist es, dass Gewerkschaften daraus ausbrechen, weniger noch als das Kapital. Du sagst, dass die deutschen Gewerkschaften irgendwie sehr auf Kompromiss oder Verhandlung ausgerichtet sind. Ja, wobei das Kapital in Deutschland diesen Kompromiss schon lange aufgekündigt hat, nur die Gewerkschaften eben nicht. Das ist in anderen Ländern auch der Fall, in Griechenland, Spanien, eigentlich überall, ist dieser Kompromiss von den Kapitalisten und Unternehmern schon längst aufgekündigt worden, nur die Gewerkschaften haben es oft nicht wahrhaben wollen oder halten weiter da dran fest. Ich denke, dass dieser Zustand einer Diskussion bedarf. Aber es gibt andere Beispiele. Es gibt radikale Gewerkschaften oder Basisgewerkschaften, die Selbstverwaltungsinitiativen mit unterstützen. Es gibt auch in Europa Gewerkschaften, die zwar nicht offensiv aufrufen, das zu tun, aber in dem Moment, in dem Betriebe von AktivistInnen aus ihrer Gewerkschaft besetzt werden und diese Solidarität einfordern, Unterstützung geben. Das reicht von der CGT in Frankreich bis hin zu den Cobas und Basisgewerkschaften und den USB in Italien, was so ungefähr den Betriebsräten in Deutschland entspricht, die die Konflikte unterstützen. Wir haben andere Beispiele in Brasilien: Die Metallergewerkschaft, die auch dazu übergegangen ist, solche Betriebe zu unterstützen. Es gibt allerdings in den letzten Jahren keine Besetzungen mehr in Brasilien, was wesentlich mit einer Gesetzesänderung zum Bankrottgesetz zusammenhängt. Die hat dazu geführt, dass es in Brasilien kaum noch solche Besetzungen gibt und dass zudem noch sehr viele Betriebe in den letzten 10, 15 Jahren dicht gemacht haben. Das ist das einzige Land, wo es aktuell weniger rückeroberte Betriebe gibt, während in allen anderen Ländern Betriebsbesetzungen zugenommen haben. In Argentinien haben sie auch unter rechten Regierungen zugenommen, in Uruguay haben wir den Sonderfall, dass die Gewerkschaften die Unternehmen unterstützen, weil der Genossenschaftsverband seit den 60er Jahren einen Sitz im Dachverband der Gewerkschaften hat. In Uruguay existiert eine Tradition der Zusammenarbeit von Genossenschaften und Gewerkschaften. Wenn die Gewerkschaft in einem Sektor streikt, dann wird das von den Genossenschaften oder von den besetzten Betrieben oder von den Betrieben unter legalisierter Arbeiterkontrolle, die sind ja alle nicht mehr besetzt in Uruguay, mitgetragen. Es ist immer eine Frage, was diese Institutionalisierung der Gewerkschaften bringt: Es gibt Vor- und Nachteile. Vorteil ist, dass es bestimmte geordnete Bahnen gibt und man wird nicht erschossen oder ins Gefängnis geworfen oder in entsprechender Weise angeklagt; der Nachteil ist aber, dass diese Institutionalisierung die Konflikte oder die Kampfmaßnahmen mittlerweile in bestimmte Kanäle bringt, die mittlerweile fast alle ineffektiv sind. Wir haben gesehen, dass in Griechenland ein Generalstreik nach dem anderen stattfand und sich trotzdem nichts ändert, in Argentinien gibt es auch Aufstände und einen Generalstreik nach dem andern, aber der neue Päsident Milei zieht trotzdem alles durch. In bestimmten Ländern gibt es noch nicht mal ein Gewerkschaftsrecht und wir finden das ganz schlimm. Es gibt dort allerdings andere Mechanismen: Wir hatten gerade Diskussionen mit Kolleg:innen aus Hongkong, und die meinten, dass es ganz gut sei, dass bei ihnen nichts reguliert ist, weil sie damit die Möglichkeit haben, Arbeitskämpfe zu führen, die sie sonst nicht führen könnten.
Gute und Schlechte Beipiele
MN: Dario hat Griechenland angesprochen. Ich möchte das Beispiel von Viome vertiefen: Sie waren ursprünglich betriebsgewerkschaftlich organisiert und haben als solche den Betrieb übernommen und die Rückeroberung mit der Aufnahme ihrer selbständigen Produktion organisiert. Die PAME, die kommunistische Gewerkschaft der KKE, hat diesen Kampf bekämpft und aufgerufen, auch die Kolleg:innen zu boykottieren. Was ich spannend finde, ist auch das Verhältnis GKN-Betrieb in Deutschland und IG-Metall. Als die Schließung dieses Betriebes in Mosel beschlossen wurde, hat die IG-Metall einen relativ harten Kampf geführt, aber nicht um die Rückeroberung oder die Besetzung, obwohl die Kolleg:innen teilweise den Betrieb in Form des Streikes besetzt hatten, sondern um einen Sozialtarif auszuhandeln, mit relativ üppigen Abfindungen, der aber einen Verlust der Arbeitsplätze herbeigeführt hat. Dario, du hast ja auch in Ostdeutschland bei einer Betriebsschließung mit den Beschäftigten die Frage der Rückeroberung diskutiert. Kannst Du aus dieser Erfahrung erzählen?
DA: Ja, beim Waggonbauwerk in Niesky in Sachsen. Das war eine Initiative von linken Abgeordneten aus der Region. Sie haben versucht, dort die Option der Besetzung und der Rückeroberung aufzumachen. Das tragische an der IG-Metall ist ja nicht nur, dass sie die Arbeitsplätze in verschiedensten Konflikten nicht erhalten hat, sondern dass sie damit auch zugelassen hat, dass Betriebe zugemacht werden, die wir für die sozial-ökologische Transformation brauchen, wie Windenergie, Solarenergie, Waggonwerke. Das ist total absurd. Da wurde dann von der IG-Metall auf E-Autos gesetzt, was ihr ständiges Mantra ist. E-Fahrzeuge werden hochgejazzt und die Bereiche, die tatsächlich wichtig sind, werden von der IG-Metall mehr oder weniger sang- und klanglos aufgegeben. Wie gesagt, hart umkämpfte Sozialpläne und Abfindungen oder sonst irgendwas, dafür kämpfen sie, aber weniger für die Transformation der Betriebe z.B. für Windenergie. Einerseits betonen die deutschen Gewerkschaften immer ihre Verantwortung für die Gesamtwirtschaft, was man anzweifeln darf, aber wenn sie die tatsächlich hätten, dann müssten sie eigentlich in so einem Moment wie bei den Waggonwerken Niesky für den Erhalt von Schienenwerken, Waggonwerken, von Windenergiemotorenproduktion, und Solaranlagenproduktion eintreten, was machbar wäre. Das tun sie aber nicht. Dieser Widerspruch ist das große Problem.
Ich habe in Niesky zwei Videoveranstaltungen gemacht, mit den Leuten vor Ort und ein paar der Beschäftigten. Aber nicht besonders viele, muss man ehrlich sagen. Das ist nur auf ein sehr begrenztes Interesse gestoßen. Und ich denke, das liegt auch daran, dass z.B. die IG-Metall dort jahrelang kaum etwas gemacht hat. Sie hat gegen die Schließung einen Protest-Brief geschrieben. Das war alles. Es hätte da mehr an Unterstützung, ein aktives Unterstützungskomitee vor Ort gebraucht. Es hätte Leute gebraucht, die Verbindungen aufmachen, aber es hätte in erster Linie tatsächlich engagierte Leute im Betrieb gebraucht, und die gab’s nicht im ausreichenden Maße.
Rolle der Solidarisierenden
AT: Gerade hast du von Solidarität und aktivem Mitmachen geredet. Solidarität organisiert man ja nicht nur untereinander, sondern auch mit anderen Menschen. Ich würde gerne auf die Rolle der linken Gruppierungen eingehen: Sie sind bestimmt solidarisch, aber auch einnehmend, also dass sie dann alles bestimmen wollen.
DA: Ich würde mal sagen, es ist notwendig, dass es in so einem Konflikt zumindest einige Leute mit politischer Erfahrung oder Organisierungserfahrung mitmachen. Ansonsten entwickelt sich da leider gar nichts. Es gab auch Beispiele in Griechenland, wo das überhaupt nicht der Fall war. Im Norden des Landes gab es so eine Großschreinerei, die dann auch von einigen Leuten besetzt wurde. Die hatten Ideen, den Betrieb unter Arbeiterkontrolle zu übernehmen. Sie haben Viome besucht, aber sie hatten keine Erfahrung, wie man sich organisiert und weiter vorgeht. Das ist dann eingeschlafen, wie vieles andere auch. Allerdings kann man auch sagen, wenn es zu viele Linke gibt, klappt’s wieder nicht. Weil dann die ganzen Flügelkämpfe oder eben eine Instrumentalisierung im Sinne von bestimmten Organisationen beginnen. Das ist sicherlich in der Türkei der Fall gewesen, in Istanbul, mit dem Textilunternehmen, was tatsächlich dazu führte, dass der Stock an Arbeiter:innen immer kleiner wurde. Die Linken haben dann den Betrieb verlassen und eine Zeit lang versucht, woanders weiter zu machen. Sie hatten Unterstützung z.B. von Studierenden, die T-Shirts entworfen haben, aber sie waren am Ende zu wenige, um weiter zu machen. Es ist, glaube ich, an mehreren Sachen gescheitert. Einerseits daran, dass bestimmte linke Kleingruppen, sehr dogmatische Kleingruppen, entschieden haben, das zu ihrem Aushängeschild zu machen und das mehr oder weniger kooptiert oder übernommen haben, ohne dass die Arbeiter:innen eine Rolle gespielt haben. Es hat, so unternehmerisch das auch klingt, an einem Business-Plan gefehlt, es war unklar was passieren soll. Es wurde die vorhandene Produktion fortgesetzt bzw. die vorhandenen Materialien einfach unglaublich günstig verkauft, sogar unter dem Produktionspreis, und wenn man das Material mitberechnet, dann war schnell nichts mehr da. Es konnte dann auch kein Material nachgekauft werden, und man musste auf T-Shirt-Drucken umstellen. Vorher waren es qualitativ hochwertige Textilien, die produziert wurden. Natürlich ist es überlegenswert, T-Shirt Druck zu machen, aber auch dafür muss es eine Idee für den Vertrieb geben, wie die Sachen verkauft werden und das Geld dafür reinkommt. Ein Problem ist natürlich auch, dass die Türkei in dem Moment politisch nicht der ideale Ort war, um so was zu entwickeln.
Überlebensstrategie Wirtschaftlichkeit
AT: Gute Ideen, Wirtschaftlichkeit und eine zu diesem System passende Organisation sind notwendig, um den Betreib weiterzuführen, aber gleichzeitig, muss ich mich dem Wettbewerb stellen, muss ich die Produktion entsprechend organisieren. Das könnte bis zur Selbstausbeutung führen. So gut sich eine Rückeroberung anhört, muss man auch sehen, was das an dem Leben der Beteiligten ändert?
DA: Die Frage der Wirtschaftlichkeit ist ein kompliziertes Feld. Sie ist nicht nur davon abhängig, dass du unbedingt sehr billig produzieren musst, da spielen für Kund:innen und Konsument:innen viele Faktoren bei der Auswahl von Waren eine Rolle. Das ist ja nicht nur der Preis, sondern auch die Qualität. Es ist aber auch die Geschichte und das Branding. Die Leute kaufen jetzt auch T-Shirts mit Werbung, damit sie sie rumtragen dürfen, d.h. es funktioniert real mit dem Branding. Genau die gleiche Möglichkeit gibt es für diese Firmen auch. Vio.Me macht auch ein Branding, die Leute kaufen ein bestimmtes Produkt. Wenn ich z.B. die Sache mit Scoop-Ti in Frankreich angucke, die habe ich interviewt, so rechnen sie dieses Jahr mit 4,6 Mio. Umsatz, was über dem liegt, was sie brauchen, um die 37 fest Angestellten und das ganze Unternehmen am Laufen zu halten. Sie haben mittlerweile 50% Eigenproduktion, zu Beginn waren es grade mal 15% und der Rest war für andere Marken. Sie werden im September drei Azubis einstellen, die nach zwei Jahren Ausbildung in die Genossenschaft integriert werden, zwei im Produktionsbereich und einer in der Social Media Kampagne. Und bei denen ist das Branding ganz klar, dass sie ein Betrieb unter Arbeiter:innenkontrolle sind, dass sie 1337 Tage gekämpft haben, was man auf jeder Teepackung lesen kann usw. Und das funktioniert. Sie zahlen sogar an den gewerkschaftlichen Tarifverträgen orientierte Löhne. Es kommt auch immer auf den Sektor an. Es ist leichter in Sektoren, in denen es einen schnellen Turnaround gibt, alles, was von der Verwertung der Materialien, Produktion und Verkauf möglichst kurze Umlaufzeiten hat, funktioniert besser als wenn ich eine Schiffswerft habe und ein ganzes Schiff vier Jahre lang bauen und viel Geld vorstrecken muss.
Bei der Analyse, wie das Ganze auf die Gesellschaft wirkt, müsste man die berühmte Kritik von Rosa Luxemburg an dem Genossenschaftswesen mit einbeziehen. Ich denke, dass einige Punkte an der Kritik wichtig sind. Wir dürfen nicht erwarten, dass dadurch der Sozialismus eingeführt wird, dass langsam alles zu Genossenschaften wird, das wird nicht passieren. Die Genossenschaften werden sich auch immer stets langsamer entwickeln als kapitalistische Betriebe, weil sie nicht nur auf Mehrwert aus sind, und weil sie versuchen, andere Arbeitsbedingungen zu schaffen, und dadurch wachsen sie langsamer. D.h. das Genossenschaftswesen und Betriebsübernahmen können nur ein Teil der Kämpfe sein, um zum Sozialismus zu kommen. Sie sind ein wichtiger Teil, denke ich, weil sie, a) direkt das Kapital angreifen; und weil es wichtig ist, zu lernen und zu zeigen, dass man selbst produzieren kann. Es gibt Spielräume, die zu nutzen möglich ist. Es ist trotzdem nicht die glückliche sozialistische Insel, sondern es ist außen rum das kapitalistische Meer mit dem man umgehen muss. Wenn ich der einzige Betrieb bin, der so funktioniert und jeder andere mit dem ich zu tun habe, mit dem Managementhandbuch funktioniert, dann ist der Druck groß, dass ich mich diesen Praktiken angleiche. Wenn ich aber mit vielen anderen Genossenschaften, Solidarökonomiebetrieben, anderen besetzten Betrieben usw. zu tun habe und immer wieder sehe, es kann auch anders laufen, es können Abkommen anders laufen, Austausch anders laufen, dann fördert das die Akzeptanz und Nachahmung. Wenn ich lange gekämpft habe für den Betrieb, ihn besetzt habe, dann ändert das was an den Hierarchien und an den sozialen Kontakten. Also wenn du zwei drei Jahre einen Betrieb besetzen musst, dann spielen die Arbeitshierarchien von vorher keine Rolle und ich kann erleben, wie ohne Hierarchien gearbeitet wird. Wenn es nicht die Produktion ist, andere Sachen plötzlich wichtiger sind, andere Fähigkeiten, andere Skills und das dazu führt, dass in den meisten dieser rückeroberten Betriebe später kaum jemand auf die Idee kommt, die Hierarchien wieder einzuführen. Das macht schon einen großen Unterschied.
Ich denke, dass die Tatsache, dass man sehr lange zusammen gekämpft hat, aufeinander angewiesen ist und sich vertrauen muss, auch dazu führt, dass bestimmte Konflikte in solchen Betrieben viel weniger stattfinden als z.B. in Genossenschaften. In Genossenschaften dreht sich sehr häufig ein Konflikt darum, wer arbeitet wie viel. Arbeitet wirklich jeder gleich viel und intensiv genug? Das ist ein sehr häufiges Konfliktmotiv in Genossenschaften. Das gibt es in den rückeroberten Betrieben weniger, weil die Vertrauensbasis durch den gemeinsamen Kampf größer ist. Wenn ich mit jemand zwei Jahre lang in der Fabrik übernachtet habe, und ich habe zehn Mal bei versuchten Räumungen gemeinsam was auf die Mütze bekommen, und ich kenne die Familie von den Anderen, dann ist da ein anderes Vertrauensverhältnis. Von daher denke ich, dass es viele Veränderungen gibt, sowohl persönlich als auch politisch. Durch wen erlebt man Solidarität? Das ändert auch viel. Es ist ein Kampf von Vielen, genauso ist es notwendig, Kämpfe um die allgemeine Verbesserung der Einkommenssituationen und Absicherungen für alle Beschäftigten zu machen. Auch die Belange der Leute, die unbezahlt arbeiten, Reproduktionsarbeit machen, müssen mit einbezogen werden. Es gibt sehr viele Felder, in denen wir agieren und agieren müssen.
MN: Es gibt aber auch da die Spaltung der Bewegung, es gibt das Genossenschaftsgesetz, wodurch sich sehr viele gegründet haben, die aber übelst sind in der Behandlung ihrer Beschäftigten und es gibt die antikapitalistisch organisierten Betriebe und Genossenschaften.
Wirkung in die Umgebung
AT: Ich will über die Wirkung dieser rückeroberten Betriebe in ihrer Kommune, in ihrer politischen Umgebung reden, weil deine Beispiele Hoffnung gebend sind, dass sich mit dieser Aktion auch etwas in der Umgebung ändert, also nicht nur zwischenmenschliche Beziehungen im Betrieb, sondern auch die Solidarität in der Kommune plötzlich anders wird.
DA: Das ist auf jeden Fall so, das ist sehr auffällig, dass weit über die Hälfte dieser rückeroberten Betriebe sogar Raum zur Verfügung stellen für Initiativen aus der Nachbarschaft, soziale Initiativen etc. Was in proletarischen Stadtteilen oder in ärmeren Stadtteilen fehlt, was Unternehmen in der Regel haben, ist Platz. Und damit ist eine Kombination da. Es gibt die Zusammenhänge zwischen der Fabrik und dem Stadtteil, die Möglichkeit, sich zu organisieren, die Möglichkeit, Netzwerke zu schaffen, die Möglichkeit, Raum zu haben, der genutzt werden kann. Und ich denke, dass das ein sehr wichtiger Punkt ist, sich in eine offene Fabrik zu verwandeln. Warum muss die Fabrik abgeschottet sein gegenüber dem Rest der Gesellschaft? Wenn ein großes Stahltor zugeht und dahinter andere Gesetze gelten als vor dem Tor, das trennt mehr als es verbindet. Wenn das tendenziell aufgehoben wird, wird auch erlaubt sein, Fragen anders zu diskutieren: Was wird da eigentlich produziert? Für wen wird dort produziert und wie wird produziert und woher kommen die Rohstoffe? Das ist das, was in den rückeroberten Betrieben - nicht in allen natürlich, aber in vielen dieser Unternehmen - funktioniert oder passiert.
NC: Weil du von Ausstrahlungskraft in die Kommune gesprochen hast, würde ich nochmal das Beispiel GKN erwähnen. Sie haben große Unterstützung erlebt. Die letzten Manifestationen waren ja riesig. Was sind das für Kräfte, die die Kämpfe unterstützen?
DA: Das ist ganz unterschiedlich nach Ländern und Kontexten. Es kommt auf die Lage des Unternehmens an. Wenn das Unternehmen weit ab ist, dann ist es schwerer, dass eine umliegende Community unterstützt, weil keine da ist. GKN ist das Paradebeispiel für die Alternative: Da ist es gelungen, eben diese Verbindung zwischen industrieller Transformation und sozioökologischer Transformation hinzukriegen und deutlich zu machen, dass es nicht nur um Arbeitsplätze geht, sondern auch um die gesellschaftliche Zukunft. Es gibt die Möglichkeit, hier ein Pilotprojekt von unten zu starten, was weit über das hinaus geht. Und es zudem auch wichtig, zu zeigen, dass es aus eigener Kraft entsteht. Die Beschäftigten, die Arbeitnehmer:innen, auch die ehemaligen, sind die Akteur:innen in diesen Dingen. Das ist das Zentrale, aufzuzeigen, wir wollen eine sozialökologische Transformation, dann machen wir sie. Punkt. Wir warten auf nichts, wir haben vierzig Jahre gewartet, mit allen möglichen Klimaabkommen und sonst irgendwas und es ist alles schlimmer als es vor 40 Jahren war, von den Emissionen bis hin zu den Produktionen. Von daher ist das die große Zugwirkung von GKN, weswegen Fridays for Future und auch eben andere Spektren, die in diese Richtung gehen, an sozialökologischer Transformation interessiert sind, da sehr stark mit organisieren. Und man muss hier eine Lanze brechen: Es gibt auch in der IG-Metall viele Genoss:innen, die durchaus aktiv und solidarisch sind mit GKN. Da, wo es Initiativen gibt, kommen die von unten, die kommen von den Beschäftigten, das find ich auch nicht weiter verwunderlich, weil, in der Regel sind diejenigen, die konkret in der Arbeit sind, die „Experten“, und die wissen natürlich, dass das, was sie da tun, wenig Zukunft hat, und dass es darum geht, sich daraus anderes zu überlegen.
Sie geben nicht schnell auf
AT: Wir haben über die erfolgreichen Beispiele gesprochen, wie ist es statistisch mit negativen Beispielen, die angefangen haben und nicht weiter machen konnten oder wegen Aussichtslosigkeit geendet haben?
DA: Es ist immer die Frage, was heißt gewinnen oder was heißt denn erfolgreich sein? Es gibt in Brasilien leider viele Beispiele, wo es nicht funktioniert hat, so bei rückeroberten Betrieben im Zuckerrohranbau und in der Verarbeitung von Zuckerrohr, die sind dann irgendwann pleite gegangen.
AT: Wegen Konkurrenz?
DA: Wegen der Konkurrenz, aber auch aus internen Fehlkalkulationen und Misswirtschaft. Es gibt eine Untersuchung in Argentinien, im Verlaufe derer 100 Betriebe angeschaut wurden, wie sie sich entwickelt haben und es gibt einzelne andere Stichproben. Man kann grundsätzlich sagen, dass die Quote der Betriebe, die wieder zu machen oder sich wieder Bankrott erklären, wesentlich geringer ist als die im normalen kapitalistischen Sektor und das, obwohl es Betriebe sind, deren Ausgangsbasis ja schon der Bankrott des kapitalistischen Unternehmens war. Das sollte man hier nochmal unterstreichen.
Vielen Dank an alle Beteiligten.
Für weitere Interesse: www.azzellini.net, www.workerscontrol.net
Bücher zum Thema von Dario Azzellini:
Azzellini, Dario; Vieta, Marcelo. 2024. Commoning Labour and Democracy at Work: When Workers Take Over. Routledge, Critical Development Studies.London/New York: Routledge. (Nich nicht erschienen)
Azzellini, Dario. 2018. Vom Protest zum sozialen Prozess. Betriebsbesetzungen und Arbeiten in Selbstverwaltung. Hamburg: VSA.
Azzellini, Dario (Hg.). 2015. An Alternative Labour History: Worker Control and Workplace Democracy. London: Zed Books.
Azzellini, Dario; Ness, Immanuel (Hg.). 2012. Die endlich entdeckte politische Form. Fabrikräte und Selbstverwaltung von der russischen Revolution bis heute. Köln: Neuer ISP Verlag.
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