Ein Interview mit Dario Azzellini
Konstituierende Macht
¿Wir wollen heute über den Begriff der «konstituierenden Macht» sprechen. Während der Vorbereitung für diese Ausgabe der arranca! hatten wir den Eindruck, dass das ein Konzept ist, das in Spanien, Italien und Lateinamerika in linken und emanzipatorischen Bewegungen relativ bekannt ist, während es in Deutschland selbst innerhalb der radikalen Linken kaum verbreitet ist. Vielleicht kannst du als Einstieg einfach kurz mal skizzieren woher der Begriff kommt und was er bedeutet?
Dario Azzellini: Der Begriff kommt aus der politischen Philosophie und bezeichnet ganz weit heruntergebrochen (und als Einstieg) erst mal vor allem das Zusammentreffen von Multitude und Potentia. Ersteres meint Menschen, die in nicht-hierarchischer Vielheit und Verschiedenheit zusammenkommen, und letzteres die Fähigkeit, die diesen Menschen kollektiv innewohnt, gemeinsam etwas Neues zu entwickeln und die Gesellschaft in der sie leben (um)zu gestalten. Damit einher geht die Tatsache, dass sie nicht nur die Macht, sondern auch die Legitimität haben selbst zu entscheiden wie sie zusammen leben wollen und nach welchen Regeln. Einfach gesagt: Irgendwoher muss ja die Legitimität kommen eine neue Ordnung als verbindlich zu erklären. Das geschah lange Zeit mit dem Hinweis auf Gott oder Götter, auf Abstammung oder auf das Recht des Stärkeren. Da das nicht mit Vernunft in Einklang zu bringen ist, braucht es eine andere Grundlage. Und diese andere Grundlage ist, dass die Menschen gemeinsam das Recht haben Neues zu beschließen. Daher ist die konstituierende Macht die Legitimation und Grundlage aller Revolutionen, Republiken und Demokratien. Das, was immer so schön als Volkssouveränität bezeichnet wird, ist letztendlich ein bestimmter Aspekt der konstituierenden Macht, nämlich das Recht und die Legitimität der Bevölkerung alles Dagewesene über den Haufen zu werfen und vom Kopf auf die Füße zu stellen oder wie auch immer.
Allerdings ist dieses Vermögen nicht unwidersprochen. Einerseits hat die Bevölkerung immer schon die Macht zu gestalten und kollektive Entscheidungen zu treffen – zumindest theoretisch, andererseits sind wir es inzwischen gewöhnt diesen Auftrag nach einem Umsturz oder einer Wahl etc. schnell stellvertretend weiterzugeben. Sprich, nach der kollektiven Willensäußerung wird eine verfassungsgebende Versammlung gewählt und die repräsentiert uns dann, ohne dass die Menschen kontinuierlich nach ihren Wünschen oder Vorstellungen gefragt werden. Das ist natürlich völlig unlogisch und widersprüchlich. Warum sollten Menschen etwas, das sie selbst geschaffen haben, plötzlich nicht mehr grundsätzlich ändern dürfen, wenn sie das so wollen?
Das Konzept der konstituierenden Macht, auf das ich mich hier beziehe, kommt vorwiegend aus der operaistischen Ecke. Toni Negri hat Anfang der 1990er Jahre das Buch «Die konstituierende Macht» geschrieben. Es wurde leider nicht oder nur teilweise ins Deutsche übersetzt, ist aber auf Spanisch und Portugiesisch erschienen. Vielleicht erklärt sich auch daraus der Einfluss des Konzepts der konstituierenden Macht in Lateinamerika. Ich würde übrigens sagen, dass es dort viel wichtiger ist als in Italien selbst… Negri fragt zunächst ob die rebellierende Multitude bzw. die konstituierende Macht positiv oder negativ ist. Denn es gibt konservative Denktraditionen, auf die sich beispielsweise die ganze liberaldemokratische Linie bezieht, für die ist die Multitude immer etwas Unheilvolles, weil Unvorhersehbares. Deshalb sind von Thomas Hobbes (1588-1678) bis heute alle Liberalen und Konservativen – große Liebhaber einer festgeschriebenen und unumstößlichen sowie planbaren Ordnung – immer zutiefst erschrocken über die Multitude, die eher als etwas Gefährliches gelesen wird. Für die andere historische Linie dagegen, von Macchiavelli über Spinoza und Marx etc., ist die schöpferische Kraft der Multitude etwas Positives. Hierauf bezieht sich Negri: die Kontinuität der konstituierenden Leidenschaft der Multitude.
In der Geschichte, in den Revolutionen, blieb allerdings immer die Vorstellung bestehen, die konstituierende Macht habe nur eine begrenzte Zeit, um ihr Werk zu vollenden, da dann die konstituierte Macht die Führung übernimmt. Darin liegt auch die Ursache für die Beschleunigung von revolutionären Prozessen, die nach Negri Revolutionen immer wieder in Terror abgleiten ließen. Davon ausgehend argumentiert er, dass es zwingend notwendig ist sich damit zu beschäftigen wie die konstituierende Macht – wenn sie denn offensichtlich eine der mächtigsten Kräfte der Geschichte ist, für alles herhält und alles begründet – wie diese bedeutsame Kraft also kontinuierlich (im Gegensatz zu eruptiv und nur kurzfristig) freigesetzt werden kann. Er fragt sich, wie konstituierende Macht immer wieder intervenieren und eine dauerhafte Kraft bleiben kann, so dass sie nicht jedes Mal nach einer kurzen und beschleunigten Intervention, einer Revolution, etc. wieder in der Versenkung verschwindet.
¿Es hat natürlich eine gewissen Grund, dass es eine Schule politischen Denkens gibt, die davon ausgeht, dass die Masse gefährlich wird, wenn sie denn auf einmal entscheiden darf und in einem beschleunigten Prozess die Verhältnisse umstürzt. Diese Beschreibungen des Terrors und der Unordnung sind sicherlich immer auch als Beschreibungen derjenigen zu lesen, die ihre Macht, ihren Status, ihren Besitz, was auch immer verlieren. Aber ich frage mich schon, ob diese Befürchtung reine Propaganda der Herrschenden ist oder ob es durchaus denkbar ist, dass diese auf einmal freigesetzte Kraft ganz und gar nichts Positives oder Demokratisches hat und die Multitude vielleicht auch in autoritäre Raserei verfallen kann. Bei Negri scheint es ja schon eher die Grundüberzeugung zu geben, dass diese konstituierende Macht a priori nach dem Guten, dem Gemeinsamen, dem Demokratischen strebt, oder?
Ja, deshalb finde ich das Konzept von Paolo Virno zum Beispiel wesentlich überzeugender, weil die Multitude eben durchaus Negatives tun und sein kann. Was ich aber dennoch teilen würde, das ist die Überzeugung, dass Menschen ganz grundlegend und vielleicht als anthropologische Konstante schon den Impetus haben sich als Gleiche gegenüber zu treten und kollektive Formen des Miteinanderlebens zu suchen. Und dabei ist eigentlich recht egal welche Situation man jetzt anschaut, ob ein Nachbarschafts-Komitee oder eine Gruppe an der Uni oder was auch immer. Ganz grundsätzlich kommen vor allem kleine Gruppen nicht als erstes darauf einen Chef oder eine Form von Repräsentation wählen zu wollen.
¿Mir ginge es beispielsweise auch um zentrale Spaltungsmechanismen wie Gender oder Religion oder Klasse, was auch immer... Ich würde jetzt mal behaupten ich hätte die Geschichte auf meiner Seite wenn ich darauf hindeutete, dass diese Herrschaftsverhältnisse das Aufeinandertreffen unter Gleichen in den letzten Jahrhunderten immer mal wieder aufs Empfindlichste gestört haben…
Auf jeden Fall, deshalb glaube ich eben auch, dass die Grundsätzlichkeit, mit der Negri und Hardt an die Konstruktion dieses demokratischen Begehrens herangehen, falsch ist. Denn selbst wenn dieser grundlegend demokratische und auf das Gemeinsame ausgerichtete Impetus irgendwo da sein sollte, muss das nicht heißen, dass die externen Faktoren es zulassen, dass er sich auch entfalten kann.
Fakt ist, dass uns oft die Erfahrung mit dem Umgang mit dem demokratischen Begehren fehlt und die Mechanismen, um damit gemeinsam erfolgreich voranzukommen. Denn selbst wenn ich im Kleinen mit meinem Nachbarn den Drang habe kollektiv und egalitär Dinge zu regeln, wie gehe ich das an, wenn wir plötzlich zu dritt sind oder zu dreißigst? Wenn ich keine Erfahrung mit Entscheidungsfindungsprozessen in größeren Gruppen habe, kann das auch schief gehen. Demokratie, Partizipation und solche Dinge basieren auf Lernprozessen. Es ist also entsprechend wichtig, dass es Leute gibt, die Erfahrungen einbringen können als Fundus, aus dem man sich bedienen kann. Wie genau man dann Demokratie gestaltet kann allerdings überall anders aussehen. Ich halte es für einen der wirklich großen Irrtümer der liberalen Demokratietheorie zu glauben, dass es ein allgemeingültiges Modell gibt, das dann überall anzubringen ist. Und genau hier ließe sich mit konstituierenden Prozessen vielleicht ein grundlegendes Dilemma demokratischer Entscheidungsfindung lösen, nämlich die Ungleichzeitigkeit von Wandel zu denken, sowohl zeitlich als auch räumlich. Es muss möglich sein, dass unterschiedliche Prozesse auf lokaler, regionaler, nationaler, transnationaler Ebene stattfinden können, die nicht zentral gesteuert sind, sondern die ganz unterschiedlich ausgestaltet werden können.
Um ein Beispiel aus Venezuela zu nennen: Dort haben die Schulen in den unterschiedlichen Regionen die Möglichkeit selbst, in Abstimmung mit Schüler_innen, Eltern und Lehrer_innen die Schulferien festzulegen. Das klingt irrelevant, ist aber ganz grundlegend, denn wenn sich auf dem Land Schulzeit und Erntezeit überschneiden, ist die Schule ganz einfach leer, Ferien hin oder her. Deshalb ist es sehr sinnvoll, dass alle gemeinsam über diese Angelegenheit entscheiden, denn damit ist allen viel mehr geholfen als mit zentralistischer Planung. Ein anderes Beispiel wäre die Frage nach politischer Partizipation. In den kommunalen Räten in Venezuela, die im Allgemeinen aus 150 bis 400 Familien bestehen, gibt es sehr unterschiedliche Erfahrungen mit der Informationsweitergabe. In einem ländlichen Stadtteil in den Bergen läuft das aber zum Beispiel ganz anders als in einem verarmten ehemaligen Mittelschichtsbarrio mitten in der Hauptstadt Caracas. Das sind erst mal scheinbar die gleichen Strukturen, aber wenn auf der Versammlung im ländlichen Bezirk 30 Leute sind, bin ich mir sicher, dass am nächsten Tag 300 Leute wissen was abgeht, weil ein Großteil des Lebens draußen stattfindet und man einfach mit einander redet. Wenn in dem Bezirk in Caracas 30 Leute auf der Versammlung sind, dann weiß ich, dass am nächsten Tag 25 wissen was besprochen wurde. Denn dort wiederholt sich die gleiche Entwicklung, die wir aus den Industrieländern kennen, das heißt alte Leute sind isoliert und einsam, deshalb kommen fünf allein deshalb zur Versammlung um mal rauszukommen, ohne irgendwas mitzubekommen; die anderen Leute leben in Kleinfamilien und machen die Tür hinter sich zu, wenn sie von der Arbeit kommen und kommunizieren auch wenig. Das heißt, ein und dasselbe Modell kann völlig unterschiedliche Auswirkungen haben. Und umgekehrt will ich sagen, dass es eben sein kann, dass für ein und denselben Ausgang, Demokratisierung oder Umsetzung wirklicher Partizipation zum Beispiel, ganz unterschiedliche Modelle erfunden werden müssen, von den betroffenen Leuten selbst. Und dafür können solche konstituierenden Prozesse eben auf ganz unterschiedlichen Ebenen einen großen Dienst tun.
¿In der englischen Version seines Buches beschreibt Negri konstituierende Macht als so eine Art sich permanent vollziehenden Prozess. Wenn man sich dagegen liberale Theorien ansieht, dann gibt es entweder den Gründungsmythos des Bürgerkriegs, z.B. bei Hobbes, und dann kommt der Souverän und lenkt das alles in geordnete Bahnen. Oder aber konstituierende Macht wird als zeitweilige Ausnahme gedacht, die aber auch wieder reguliert und auf demokratische Dauer gestellt wird. Und auch bei linken Theoretikern, wie z.B. Alain Badiou, scheint konstituierende Macht eher eine verdichtete Abfolge von Ereignissen zu sein als etwas Kontinuierliches. Vielleicht kannst du da nochmal etwas zu sagen, warum es sinnvoll ist, diese konstituierende Macht als permanenten Prozess zu denken.
Das ist eine gute Frage… ich würde gar nicht sagen, dass sich das permanent vollzieht, das klingt mir bei Antonio Negri dann ein bisschen zu sehr nach der permanenten Revolution von Trotzki…
¿Ja, daran habe ich mich beim Lesen auch erinnert gefühlt…
Ich denke, Negri richtet sich in gewisser Weise eben gegen bestimmte bürgerliche Theoretiker, die konstituierende Macht als etwas vergängliches, instabiles beschreiben, als nicht mehr als einen Hauch in der Weltgeschichte. Ich denke, wir kennen das alle aus Bewegungen und Mobilisierungen, dass es natürlich bestimmte Dynamiken und Konjunkturen gibt, es gibt Zeiten intensiver Mobilisierung und dann ebbt es wieder ab, weil die Spannung nicht immer gehalten werden kann.
Wenn man sich vornimmt, dass die konstituierende Macht permanent und immer gleich stark spürbar und wirkmächtig sein soll, dann wird man schnell enttäuscht. Gesellschaftliche Mobilisierung kommt in Wellen und es muss immer auch mal wieder Punkte zum Durchatmen geben. Und hier sehe ich auch wieder einen Unterschied zum Konzept von Negri und Hardt, denn für Negri ist ein konstituierender Prozess das Gegenteil von Verfassung. Er hält beides quasi für einen totalen Widerspruch, denn während die Verfassung Stillstand bedeutet und eine Momentaufnahme und das Einfrieren von etwas ist, ist der konstituierende Prozess ständig in Bewegung. Seiner Ansicht nach ist konstituierende Macht nicht zu bändigen und schließt keine Kompromisse. Aber ich denke nicht, dass sich das notwendig mit der gemeinsamen Arbeit an einer Verfassung ausschließen muss. Der Widerspruch ist zwar ganz sicher da, aber ich denke dennoch, dass es Sinn macht bestimmte Errungenschaften immer wieder auch festzuschreiben und einen bestimmten Status Quo festzuhalten, bis man in der Lage ist, zum nächsten Schlag auszuholen. Die Frage ist doch, wie man mit diesem Widerspruch umgeht, wie hält man die Möglichkeiten zum Eingreifen für die konstituierende Macht möglichst offen? Ich denke, dass es gerade deshalb klug ist, immer wieder Zwischenschritte einzuziehen. Als konkretes Beispiel: wenn es uns in einem konstituierenden Prozess in Europa beispielsweise gelänge festzuschreiben, dass Ressourcen nicht privatisiert werden können, dann wäre das meines Erachtens nach wunderbar, wenn das auch in einer europäischen Verfassung oder so festgeschrieben würde. Nicht weil ich an den bürgerlichen Staat glaube, sondern, weil es Sinn macht solche Zwischenerfolge mal zu sichern, und für alle, die nicht beteiligt waren, sichtbar werden zu lassen.
¿Wir sind bei den Diskussionen über das Konzept der konstituierenden Macht oder der konstituierenden Prozesse relativ oft auf Leute gestoßen, die gesagt haben: Warum jetzt schon wieder einen neuen Begriff für die alten Phänomene? Deshalb vielleicht noch mal die Frage: was ist daran nun wirklich neu oder anders, welcher neue Blickwinkel ergibt sich und warum genau sollten wir mit dem Begriff operieren?
Am wichtigsten ist die Etablierung der Frage «wie wollen wir eigentlich leben» als legitime Frage einer Gesellschaft, auch jenseits von Bezahlbarkeit und Rationalisie-rungslogik. Und in gewisser Weise sind wir es als radikale Linke ja immer noch gewohnt gegen etwas zu sein, auf Demonstrationen zu gehen und Missstände anzuprangern. Das Konzept der konstituierenden Macht stellt diesem notwendigen Protest ein kollektiv vorwärtsgewandtes Konzept zur Seite. Die rebellierende Menschheit hat kollektiv sowohl die Fähigkeit als auch die Legitimität die Zukunft ganz anders zu gestalten. Dabei lassen wir uns keine liberale, verfassungsrechtliche, staatliche oder sonstige Zwangsjacke anziehen. Illegitim ist die konstituierte Macht, da die konstituierende Macht ihr die Legitimität schon entzogen hat.
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