KOMMENTAR Venezuela ein Jahr nach dem Putsch
Patt und Polarisierung
Mitte April 2002 hatte eine Gruppe von Generälen gemeinsam mit Großunternehmern und Gewerkschaftern versucht, den mit großer Mehrheit gewählten Präsidenten Hugo Chávez zu stürzen. Der Vorsitzende des Unternehmerverbandes Pedro Carmona rief sich zum neuen Staatschef aus - nach 72 Stunden war die verfassungsmäßige Regierung dank des Aufbegehrens von mehreren Millionen Venezolanern und der Loyalität der Armee wieder im Amt.
Auch wenn der charismatische Chávez diesen und anderen Herausforderung bis heute zu widerstehen vermochte, bedroht ist er nach wie vor. Venezuela spaltet sich mehr denn je in Anhänger und Gegner seiner Präsidentschaft. Zwar gilt für das Land inzwischen eine der progressivsten Verfassungen der Welt, die von 80 Prozent der Bevölkerung in einer Volksabstimmung angenommen wurde, doch sind entscheidende Institutionen - etwa die Justiz und Teile der städtischen Verwaltungen - nach wie vor in den Händen der ehemals herrschenden Schichten. So entschied etwa der Oberste Gerichtshof mit elf zu neun Stimmen, dass es im April 2002 keinen Putsch gegeben habe. Demzufolge sei auch jede Strafverfolgung der Putschisten hinfällig.
Auch die ökonomische Lage bleibt prekär, allein von 1999 bis 2002 betrug die Kapitalflucht 32 Milliarden Dollar. Die Sabotage der staatlichen Erdölindustrie im vergangenen Dezember, die von den Urhebern als Streik bezeichnet wurde, hinterließ Einnahmeausfälle von sieben Milliarden Dollar. Zwar gelten die Prognosen des IWF über einen Wirtschaftsrückgang von 17 Prozent im laufenden Jahr als übertrieben, dennoch - die Regierung weiß genau, dass sie soziale Versprechen nicht wird halten können. Einbrüche in der Anhängerschaft wären die Folge. Die Anti-Chávez-Front wird das zu nutzen wissen.
Schon jetzt lässt sich nicht übersehen, wie sie erneut mobil macht und sich durch den Irak-Krieg im Aufwind fühlt. Auf allen TV-Kanälen (nur das staatliche Fernsehen ausgenommen) läuft seit zwei Woche eine aggressive Kampagne. Ihr Slogan: »Jetzt holen wir dich!«. Es scheint ein Indiz für den geringen Spielraum der Regierung, dass alle großen Fernsehsender und Zeitungen nach wie vor von der Opposition kontrolliert werden, auch wenn die zum Jahrestag des Putsches nur einige hundert Sympathisanten auf die Straße brachte.
Die regierungsnahen Kräfte geben sich überzeugt, dass Chávez die Volksabstimmung im August über seinen weiteren Verbleib im Amt gewinnt. Schließlich - so heißt es - wurden er und sein politisches Projekt seit 1998 in sieben Abstimmungen bestätigt. Dieser Optimismus ist nicht vollends nachvollziehbar, denn die Opposition tut ihr Bestes, damit der Urnengang inmitten einer starken Rezession stattfindet. Außerdem dürfte es nicht ohne Wirkung bleiben, wenn die TV-Kanäle den Zuschauern pausenlos einhämmern, Venezuela sei auf dem Weg zum »Castro-Kommunismus«.
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