Diskussion: Die FreundInnen der klassenlosen Gesellschaft suchen die Reinheit der Kritik. Doch revolutionäre Politik gibt es nur in der Praxis

Rein ins Getümmel!

Die Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft warnten in ak580 vor linken Illusionen in staatliche Politik. Anstatt über Sachzwänge der politischen Ökonomie zu sprechen und Kurs auf die Revolution zu nehmen, so ihre Diagnose, schwadronierten weite Teile der radikalen Linken von »Krisendeutungen« und »Hegemonie« und manövrierten so direkt im reformpolitischen Fahrwasser. Ihr Artikel sollte deshalb, schrieben die Freundinnen und Freunde, »die Spaltung der Linken in EtatistInnen und Antiautoritäre« befördern.

Mit diesem Aufruf liegen sie falsch. Gesellschaftliche Transformation ist das Ergebnis sozialer Auseinandersetzungen und Prozesse, nicht vermeintlich »richtiger Erkenntnis« und festen Glaubens. In bewegten Zeiten, wenn altbekannte Parameter wanken, ist Heilssuche in Sicherheit bietende Kategorien stets besonders verbreitet. Trotzdem macht es selten so wenig Sinn, die Reihen zu schließen und die Fahnen hochzuhalten. Eine Linke, die etwas bewegen will, muss - in Anlehnung an Ernst Bloch - Politik als Herausforderung der Praxis erfahren.

Die vergangenen zwei Jahre waren weltweit von Aufständen, Bewegungen und Protesten gegen die multiple Krise (ökonomische, politische, ökologische Krise, Finanz-, Steuer-, Reproduktions- und Repräsentationskrise usw.) geprägt. Weltweit wehren sich Millionen Menschen gegen die beschleunigte Umverteilung zu Gunsten des Kapitals und die rasante Verschlechterung ihrer Lebensumstände. Sie entwickeln neue Organisationsformen und kollektive direktdemokratische Praktiken. Ein Ende ist nicht abzusehen; eher werden sich diese Proteste noch verstärken. Mit der strukturellen Krise des Kapitalismus hat sich ein Zeitfenster geöffnet, in dem auch radikale Systemveränderungen in greifbare Nähe rücken könnten. Zugleich ist in den krisengeschüttelten Staaten des Nordens eine Entwicklung hin zu autoritärer und repressiver Machtausübung auszumachen.
Notbremsen der Geschichte

Walter Benjamin schrieb: »Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.« In Kairo auf dem Tahrir-Platz riefen die Menschen Kefaya! (Es reicht!). Auf dem Syntagma-Platz in Athen waren Banner mit der spanischen Aufschrift ¡Ya Basta! (Es reicht!) zu sehen, ein Spruch, der dem zapatistischen Aufstand in Chiapas, Mexiko, entlehnt ist. In Spanien ist eine zentrale Losung ¡Democracia Real Ya! (Echte Demokratie jetzt!). In Russland riefen die Protestierenden »Sie repräsentieren uns nicht!«, was auf Russisch auch »Ihr könnt euch uns nicht vorstellen« bedeutet. Ähnliche Parolen sind in anderen europäischen Ländern, in den USA und in (von den Medien völlig ausgeblendeten) zahlreichen afrikanischen Staaten zu hören.

In Ablehnung der Logik der Repräsentation sind in den neuen Bewegungen die Prinzipien der direkten Demokratie und Partizipation prägend. Offensichtlich drücken sie Bedürfnisse aus, die überall auftreten. Ein weiteres gemeinsames Merkmal der Bewegungen ist, dass sie nicht von »traditionellen« Parteien, Organisationen oder Gewerkschaften initiiert wurden. Wenn überhaupt, schlossen sich diese erst im Verlauf der Proteste an.

Momentan kommt es darauf an, Räume der Selbstorganisierung zu schaffen und selbstorganisierte Kämpfe zu unterstützen. In Spanien, Portugal, Griechenland oder den USA entstehen Stadtteilversammlungen; Proteste gegen Zwangsräumungen und Privatisierungen häufen sich, Betriebe werden besetzt. Die TrägerInnen dieser Kämpfe sind keine »typischen« AktivistInnen, es sind Betroffene. Konkrete Erfolge, wie etwa die Verhinderung von Wohnungsräumungen, sind dabei wichtig. Sie vermitteln ganz praktisch das Gefühl eines möglichen Sieges.
Politisierung durch kollektive Erfahrungen

Zugleich sind Massenmobilisierungen wie die Parlamentsblockade in Spanien im September 2012 oder wie Blockupy in Frankfurt am Main wichtig. Zwar verhindern diese Mobilisierungen nicht, dass das spanische Parlament Entscheidungen trifft und die Europäische Zentralbank (EZB) Kreditbedingungen diktiert, aber sie zeigen einen gemeinsamen Horizont auf, erzeugen mediale Sichtbarkeit und stellen die Legitimität der Institutionen in Frage. Dieses Einwirken auf das gesellschaftliche Imaginarium, auf Diskurse, ist wichtig für einen sozialen Transformationsprozess.

Die Politisierung und Radikalisierung der Menschen findet in den kollektiven Erfahrungen statt - den »kleinen« Kämpfen und den Massenmobilisierungen. Wer Gesellschaft verändern will, muss in diesen kollektiven Erfahrungen agieren und dazu beitragen, sie zu schaffen. Die Beteiligung von radikalen Linken mit praktischen Protesterfahrungen kann hierbei helfen - aber nur dann, wenn die AktivistInnen nicht versuchen, den aufkeimenden Bewegungen ihre Praktiken und Identitäten überzustülpen, sondern wenn sie sich darauf einlassen, das Neue gemeinsam zu entwickeln.

Auch die Unterstützung der aktuellen Proteste durch die Partei DIE LINKE ist willkommen, solange die Partei nicht versucht, den Bewegungen eine andere Agenda oder Dynamik zu verleihen. Aber die Lösung liegt nicht in der Repräsentation, sondern in der direkten Aktion und Selbstverwaltung. Es wäre absurd, ausgerechnet jetzt Hoffnungen auf staatliche Politiken zu richten, da der bürgerliche Staat, seine ideologische Basis und das kapitalistische System in einer tiefen strukturellen Krise stecken und weltweit von Millionen Menschen als unfähig angesehen werden, diese im Interesse der Mehrheit zu meistern.
Staat und Autonomie

Ein emanzipatorischer Transformationsprozess kann nicht mittels des Staatsapparates bewerkstelligt werden, da der Staat kein neutrales Instrument außerhalb der kapitalistischen Verhältnisse ist. Doch die weit verbreitete Gegenposition, jede Beziehung mit dem Staat zu verweigern, hat auch nicht zum gewünschten Erfolg geführt.

Das Dilemma lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die Autonomie der Bewegungen, der Selbstorganisierung und Selbstverwaltung ist grundlegend. Werden diese Initiativen staatlichen Logiken unterworfen, verlieren sie ihre Fähigkeit, neue soziale Beziehungen zu schaffen. Auch ein Staat in den Händen freundlich gesonnener Kräfte kann nicht der Akteur der Veränderung sein. Als struktureller Bestandteil des Kapitalismus kann er nicht das Neue, das über ihn hinausweist, erschaffen. Ist der Staat aber in feindlichen Händen, bekämpft und zerstört er die Entfaltung und Verbreitung emanzipatorischer Optionen. Wie also, salopp gesagt, den Staat nutzen, ohne dass dieser zum zentralen Akteur wird, die Bewegungen vereinnahmt und damit letztlich die Transformation unmöglich macht? Dafür gibt es kein Patentrezept. Aber es gibt einige wertvolle Erfahrungen.

In Südamerika hat es in den vergangenen 15 Jahren zahlreiche Kooperationen zwischen popularen antisystemischen Bewegungen und staatlichen Institutionen gegeben. Die Fabriken unter Arbeiterkontrolle in Argentinien, Brasilien, Uruguay und Venezuela fordern und nehmen staatliche Finanzierungen. Die Landlosenbewegung Movimento dos Sem Terra (MST) in Brasilien erhält Gelder vom Staat, und auch in anderen lateinamerikanischen Ländern nutzen mittlerweile etliche Bewegungen staatliche Finanzierung. Den Zugriff auf die vom Staat akkumulierten Ressourcen sehen sie als ihr Recht an.

So lange das kapitalistische Weltgefüge weiter besteht (und nach einem Zusammenbruch sah es bei Redaktionsschluss nicht aus), macht es Sinn, dass die Antiräumungsbewegung in Spanien für Verordnungen gegen Zwangräumungen eintritt und Vio.Me, die griechische Fabrik unter Arbeiterkontrolle, sich um einen legalen Status bemüht, um exportieren zu können. Der Unterschied zu staatszentrierten Politiken ist, dass beide Kämpfe nicht darauf warten, dass der Staat ihre Forderungen erfüllt, sondern dass die Realitäten schaffen. Dass die besetzte Fabrik Republican Doors and Windows in Chicago vor wenigen Wochen legal die Produktion unter Arbeiterkontrolle begonnen hat, ist ein wichtiger Erfolg. Ebenso, wenn Wasserprivatisierung verboten wird oder ein Dekret der Stadtverwaltung Zwangsräumungen aussetzt.

Die Autonomie der Bewegungen definiert sich nicht über die Ablehnung staatlicher Finanzierung oder Anerkennung. Vielmehr kommt es darauf an, inwieweit die Bewegungen ihre Autonomie in Organisation, Diskussion, Entscheidung und Agenda behalten und die eigenen Energien in den Aufbau von autonomen Strukturen der Selbstorganisierung und Selbstverwaltung investieren.
Den konstituierenden Prozess organisieren

Weltweit sind Selbstorganisierungsformen entstanden oder gestärkt worden, die nach Kontrolle über das eigene Leben streben. Fast überall geht es primär um die Verteidigung des Rechts auf einen Zugang zu grundlegenden Ressourcen: Wohnraum, Wasser, Gas, Strom, Gesundheitsversorgung und Bildung. Das Prinzip in allen Kämpfen ist, dass sie die Erfüllung der Bedürfnisse als ein kollektives Recht verstehen. Ansätze solcher Kämpfe gibt es auch in unseren Gefilden, wie etwa die gerade entstehende Bewegung gegen Zwangsräumungen in Berlin oder die Flüchtlingsproteste in Deutschland und Österreich.

Diese Selbstorganisierungsprozesse sind nicht allein Räume des Widerstands und der demokratischen Partizipation, es sind auch Räume der kollektiven Schöpfung. Ob in Spanien, Griechenland oder den USA, überall wird breit über alternative Vorstellungen in den jeweiligen Gesellschaftsbereichen diskutiert. So etwa die Bewegung gegen die Bildungskürzungen in Spanien, die eine Diskussion zwischen SchülerInnen, Eltern und LehrerInnen darüber losgetreten hat, wie sich die Beteiligten Bildung vorstellen, und nun darum kämpft, eine solche Bildung zu ermöglichen. Oder Versammlungen gegen Wasserprivatisierung, die eine Debatte in der Gesellschaft darüber entfachen, dass Wasser ein öffentliches Gut unter lokaler partizipativer Verwaltung sein sollte, und die aufzeigen, wie dies geschehen kann. Hier manifestiert sich konstituierende Macht. Konstituierende Macht meint die den Menschen innewohnende kollektive Kraft, Neues hervorzubringen, zu entwerfen, zu gestalten, ohne dies vom Bestehenden abzuleiten oder ihm unterzuordnen.

Die konstituierende Macht gilt als Quelle der Legitimation einer jeden Revolution, Demokratie und Republik. Sie ist allerdings bisher paradoxerweise immer gleich von der in ihrem Namen errichteten konstituierten Macht wieder eingeschränkt worden. Wenn wir Revolution als breiten Prozess der kollektiven Schöpfung und Erfindung und nicht mehr als Machtübernahme verstehen, dann muss es darum gehen, diesen konstituierenden Prozess zu organisieren.

Die gesellschaftliche Alternative kann nur aus solchen Debatten und praktischen Experimenten in möglichst vielen Bereichen entstehen. Im Zentrum dieses konstituierenden Prozesses steht keineswegs eine neue Verfassung, wie manche meinen, sondern die kollektive Konstruktion von Alternativen zum Bestehenden. Sollte sich dabei aber ergeben, dass bestimmte Positionen in Verfassungen Einzug finden - wie etwa ein Verbot der Privatisierung von Wasser, Bildung oder Gesundheitsversorgung oder ein Verbot von Militäreinsätzen -, dann ist dies zu begrüßen. Der permanente konstituierende Prozess geht indes weiter.

Diskussionen um Reform oder Revolution, die nicht auf soziale Prozesse schauen, sondern auf programmatische Abgrenzung setzen, sind müßig. Wer die Luftgitarren-WM gewonnen hat, ist deshalb noch lange nicht in der Lage, ein mitreißendes Rockkonzert zu geben. Reformerische oder revolutionäre Politiken sind nicht an der vermeintlichen Radikalität der Forderungen festzumachen: Eine Position, die gesellschaftlich nichts bewegt, ist nicht revolutionär, ganz gleich, mit welchem Pathos sie vorgetragen wird. Und wenn in Spanien, Portugal oder den USA Tausende Menschen ihren Einsatz in der Verteidigung des Rechts auf Wohnraum zeigen, Räumungen verhindern und das Recht auf ein Leben in Würde über das Eigentumsrecht stellen, dann ist das revolutionärer als die Reinheit der Kritik.



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