Comuna en construccion
Im Rahmen der Filmreihe Utopia - Das Richtige im Falschen wird der Dokufilm "Comuna en construccion" von Dario Azzellini und Oliver Ressler -BRD/Österreich/Venezuela 2010, Dok, 94 min - OmU angezeigt.
"Wie viel Bedeutung hat ein neuer Milchtank? Ein Telefonanschluss? Oder ein Fußboden im Haus? Das aktuelle Venezuela ist eine der letzten Hochburgen, welche den Wert einer Sache an seinem Wert für die Gemeinschaft misst. Es ist eine der wenigen sozialistischen Bastionen auf der Welt. Aber es ist auch ein Land, das sich noch immer im Prozess befindet zu verstehen, was das eigentlich bedeutet. Was Sozialismus ist.
Was die Möglichkeiten und Hindernisse dieses sozialen und politischen Wandels sind. Die aktuelle Situation dieses Prozesses der „bolivarischen Revolution“ wurde in dem Film COMUNA IM AUFBAU von den Regisseuren Dario Azzellini und Olivier Ressler festgehalten.
Es ist ein Film, der sich nicht den großen Reden und politischen Machtspielen der sozialistischen Regierung und ihrer Opposition in Venezuela widmet. Sondern es ist ein Film, der sich ganz konträr dem Kerngedanken des Sozialismus nähert: Der Diktatur der Mehrheit. Der Basisdemokratie. Und das auf sehr konkrete Weise. Diese findet sich in Venezuela an erster Stelle nicht nur in den nationalen Wahlen, sondern ganz direkt auf kommunaler Ebene. Die Theorie ist recht simpel: Kommunale Räte (consejos communales) arbeiten die Bedürfnisse der Gemeinden heraus. Diese Bedürfnisse werden anschließend von mehreren Gemeinderäten im Zusammen-schluss, der Kommune (comuna), zusammengetragen und mit staatlicher Hilfe der Ministerien realisiert. Alles auf der Basis der tatsächlich demokratischen Selbstverwaltung, und nicht im Schatten eines repräsentativen Systems.
Die Theorie ist einfach. Die Umsetzung aber weniger. Der Film zeigt, wie anstrengend Basisdemokratie ist. Die endlosen Diskussionen um jedes Detail muss der Zuschauer mit aussitzen, muss sich mitbeteiligen und lernt mit der gleichen Geduld wie die Protagonisten, was dieser kommunale Sozialismus in Venezuela bedeutet. Es gibt keine emotionalisierende Musik oder Stimmungsbilder, alles neben den Diskussionen sind Beweise für die Argumente der Diskutierenden. Hier ein Armenviertel, da ein ausgebeuteter Wald. Der Film gibt sich keinen Emotionen hin. Er ist weder Propaganda noch Weichspüler. Er ist rational, konkret, gegenstandsbezogen. Es wird klar: Hier geht’s nicht um Impressionen, sondern ums Anpacken. ...
Was auf den ersten Blick sehr redundant und zäh wirkt, entfaltet im Verlauf des Films eine ungeahnte Qualität. Dem Zuschauer vor dem japanischen Flachbildschirm auf der schwedischen Couch mit dem mexikanischen Bier und den thailändischen Hosen wird gewahr, wie sehr sich diese nötige Kommunikation um die Verteilung von Kapital in unserer Welt auf die einzige Freiheit beschränkt, die wir genießen: Die Freiheit zu konsumieren, soweit man kann. Um zu bekommen, was man benötigt, muss man sich in unserer Welt nicht mit seinem Nächsten auseinandersetzen. Man muss nicht mehr handeln, kommunizieren, sondern einfach bezahlen können. Man muss nur die Mittel für die eigenen Nöte haben. Wer am meisten konsumieren kann, wer die größte Auswahl hat, ist der freieste Mann. Man ist nicht mehr Mensch, sondern nur noch Kaufkraft. Hier geht es um sich selbst, nicht um die Gemeinschaft, die Kommune. Was in Venezuela tatsächlich ein zäher und redundanter Prozess ist, könnte doch auch Grundstein für ein gemeinschaftsbezogeneres Miteinander sein als es gerade auf der Welt üblich ist. Der Wille - das zeigt der Film deutlich – ist vorhanden. (Janusch Ertler, www.negativ-film.de/)
Die Cinémathèque zeigt den Film auf Spanisch mit deutschen Untertiteln in der naTo. Es handelt sich um eine digitale Projektion.
unaufhörlicher anfang
gibt es utopie, gar eine zukunft der utopie im film?
vor der frage nach dem verhältnis film/utopie steht zunächst die frage nach der utopie selbst.
utopien sind nicht die verweltlichung von paradiesen. dennoch teilen sie – in ihrem klassischen auftreten – mit diesen ein imaginiertes dasein para dies, (lat.) nach den tagen (des jetzigen, respektive des irdischen lebens). und so findet die verortung von utopien im alltäglichen gebrauch auch in jenseitigen sphären, ersatzweise auf fernen inseln und an fiktiven orten statt. οὐτοπία, utopía, der nicht-ort, ist das "land hinter dem griesbreihügel" (rolf schwendter, utopie – überlegungen zu einem zeitlosen begriff) das in seiner zumeist verwendeten erscheinung eine unerreichbar ferne, ideale gesellschaft verkörpert.
die ahnenreihe ihrer beschreibungen – von platons politeia über thomas morus buch utopia (der den begriff damit 1516 erfand) bis zum früh-genossenschaftler robert owen am beginn des 19. jhds. (um nur grob eine linie zu markieren) – ist geprägt von einer technokratischen, diktatorischen wesensart, die von heutigen vorstellungen eines emanzipierten, paritätischen lebens weit entfernt ist. dies ist resultat des versuches, eine fertige gesellschaftliche situation zu entwerfen und den dahin führenden prozess zu vernachlässigen und allenfalls entstehende konflikte autoritär und mit strafen einzudämmen.
ende des 18. jhds. finden mit olympe de gouges oder mary woolstonecraft (übrigens die mutter der schöpferin des modernen prometheus frankenstein, mary shelley) gender-überlegungen eingang in die utopie und nicht viel später kommt die utopie selbst in machbarer und erfahrbarer alltäglichkeit an (zum beispiel mit ernst blochs begriff der "konkreten utopie" oder p.m.'s bolo'bolo von 1983).
diese entwicklung scheint am so genannten utopischem film vorbei gegangen zu sein. bei betrachtung einschlägiger titel wie SHANGRI LA, THINGS TO COME, STAR WARS, AELITA, BLADE RUNNER, 1984, ZARDOZ, IM STAUB DER STERNE usw. zeigen sie sich mit unverkennbar dystopischem, anti-utopischem charakter, bestenfalls wiederholen sie motive von platon und folgenden. allenfalls bleiben sie science-fiction der sich an der bürgerlich-kapitalistischen welt verschluckt und – in schockstarre – düstere szenarien malt.
"die utopie liegt in der zukunft: das »nirgendwo« ist ein land, das noch nicht da ist, aber durch unser handeln realisiert werden soll. unser handeln hingegen kann nur im hier und heute stattfinden und muss an den vorgefundenen bedingungen anknüpfen." (die vermessung der utopie, raul zelik, elmar altvater)
film steht nicht außerhalb von gesellschaft, in sofern er nur seinen eigenen gesellschaftlichen und kulturellen rahmen widerspiegeln kann. zwar ist filmische vorstellung in der lage auf einer technischen ebene zu visualisieren was nicht existiert, doch eben nur in vorgenanntem zwang. es gilt also zu erkennen, ob ein film nur vorgibt utopisch zu sein, in wirklichkeit jedoch lediglich die reifröcke seiner geschichte durch raumanzüge austauscht.
utopische filme müssen sich daran messen lassen, in wie weit sie in der lage sind, gegenwärtiges kritisch zu hinterfragen und alternatives handeln systhemisch aufzuzeigen. gelingt es ihnen nicht, die den menschen strukturierenden kräfte zu erkennen, zu analysieren, alternativen zu ende zu denken, bleiben sie oberflächlicher ästhetik verhaftet. um das wesen einer formulierten utopie zu erkennen, ist es auch unabdingbar, sich darüber klar zu werden, welche zeitgeschichtliche perspektive in den personen der autorenschaft (von der regie über das buch bis zur produktion) wirkt. kurz, inwieweit die frage "ist die welt veränderbar oder ist sie es nicht?" beantwortet wird. und sie verändert sich, wie wir wissen, durch das handeln von menschen.
das denkbare, sagbare, machbare verändern
wenn diese maßstäbe an unser tägliches handeln angelegt werden, zeigt sich, daß die grenzen, die ein heute von einem utopischen morgen trennen nicht existieren. denn das heute ist das loch, durch das die machbarkeit in die utopie schlüpft…
das programm von UTOPIA ist also auch der versuch, einen ansatz für einen konkreten begriff des utopischen im handeln wie im film zu geben.
wie aber sieht dann utopischer film aus? unsere reihe wird es zeigen. und sie wird darstellen, daß es durchaus eine zukunft der utopie im film gibt – weil es eine zukunft der utopie in der gesellschaft gibt.
Cinémathèque Leipzig e.V. | Karl-Liebknecht-Straße 48 | Leipzig | Deutschland
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