Burchardt, Hans-Jürgen, Schmetterling Schmetterling Verlag, Stuttgart 2004 (320 S., br., 16,80 €)
Rezension "Zeitenwende. Politik nach dem Neoliberalismus"
Der Titel schraubt die Erwartungen hoch. Zumal wenn im Vorwort treffend festgestellt wird, die >Gestaltung einer Politik nach dem Neoliberalismus< gehört zu den Kernaufgaben des 21. Jahrhunderts. Zentral für eine antisystemische Politik ist dabei >Demokratie und Markt zusammen zu denken< (279), womit die Frage nach den Zielen eines Gesellschafts- und Wirtschaftssystems wieder in den Vordergrund der allgemeinen politischen Debatten gerückt werden soll. Verf. beginnt seine Analyse alternativer Politik mit den ehemaligen staatssozialistischen Ökonomien. Ihre mangelhafte Innovationsfähigkeit spätestens ab den 1970ern (15ff) resultierte aus der >Intensivierung des extensiven Wachstums< statt auf >Innovation und qualitatives Wachstum< zu setzen (18). Die zentrale Planung, die >keinen sparsamen Umgang mit Ressourcen forderte< (19) führte letztlich zur Mangelwirtschaft. Die Argumentation ist überzeugend, aber auch streitbar, z.B. wenn das Einschalten der Preisfunktion die einzige Antwort auf eine fehlende Nachfragelenkung sei (20).
Anhand der Fallbeispiele Kuba und Venezuela prüft Verf., ob dort bereits zukunftsweisende Ansätze einer neuen Politik zu finden sind. Kuba, so Verf., krankt am gleichen Problem, wie die untergegangenen staatssozialistischen Ökonomien: Extensives statt qualitatives Wachstum und sinkende Produktivität. Die ergriffenen Reformen, Maßnahmen und wirtschaftliche Orientierung führen eher zu einer >stabilen Stagnation< als zu einer Konsolidierung des angeschlagenen Landes. Das Dilemma ist groß, der nächste Zusammenbruch oder die nächste >Spezialperiode< nun eine Frage der Zeit. Die notwendige Orientierung liege in der aktiven Einbindung des Binnenmarktes in eine langfristige Strategie, statt weiter fast gänzlich auf Exportsektoren oder ausländische Investitionen bzw. Gelder zu setzen. Doch erwartet Verf. einen nachholenden Neoliberalismus auf Basis eines Neopopulismus nach Fidel Castro.
Doch Verf. untermauert seine Argumentation nicht durch sachliche Information, sondern schwächt sie durch Polemik. Chávez verstehe seine Ideen als >Erleuchtung<, als >himmlische Eingabe<, z.B. die Gründung einer neuen bolivarianischen Universität in 2003 (206); Sozial- und Bildungsprogramme, Kleinkredite, Landverteilung und Kooperativenbildung, alles sei zum Scheitern verurteilt. Burchardt befürchtet auf Grundlage einer oppositionellen Untersuchung des Bildungssektors, >dass sogar das Förderprogramm für die Grundschulen mehr auf eine populistisch verwertbare Erhöhung von statistischen Kennziffern als auf eine solide Grundausbildung ausgerichtet ist< (206f). Auch im Gesundheitswesen wurde >nicht ausreichend auf Konsolidierung gesetzt<, in der Sozialpolitik ist die Vielzahl der aufgelegten Initiativen >eher hinderlich als förderlich< (207), die Reform der Sozialversicherungssysteme bereits >Makulatur< (208). >Am stärksten von der Inkohärenz ist aber der Sektor des sozialen Wirtschaftens betroffen: Die erleichterte Kreditvergabe an weniger solvente Bürger wird durch zu hohe bürokratische Hürden gebremst und die bewilligten Kreditvolumen sind oft zu klein< (ebd.). >Doch vor allem das Herzstück der bolivarianischen Binnenwirtschaftspolitik, die Agrarreform, ist im Grunde zum Misserfolg verurteilt<, da sie >per Dekret und über politische Polarisierung< durchgesetzt wird (ebd.).
Ganz am Schluss erhält man eine Ahnung post-neoliberaler Perspektiven. >Eine Politik nach dem Neoliberalismus [...] bedarf sozialer Akteure und Bewegungen als politische Träger, die ihre Ziele formulieren und ihre Umsetzung gestalten und prägen< (273), >selbstverständlich braucht eine antisystemische Politik auch immer Theorien, die [...] Alternativen vordenken<, und >auch eine postkapitalistische Gesellschaft wird immer soziale Konflikte auszutragen haben< (279). Bezogen auf die >Organisation von nichtkapitalistischen Betrieben< plädiert Verf. für >individuelle Eigentumsrechte< der Betriebsmitglieder, >die sie zum Kapitaleigner machen. Ihre Eigenbeiträge könnten auf Kapitalkonten gutgeschrieben werden, die eine Art Sparbuchfunktion erfüllen und die sie beim Ausscheiden aus dem Betrieb ausbezahlt bekommen< (283). Die Ausführungen bleiben beliebig und inkonsistent. Beim Versuch, die Schwierigkeiten einer ^systemüberwindenden^^ Politik deutlich zu machen, geraten Verf. Ansätze für eine Politik nach dem Neoliberalismus aus den Augen. Das Buch wird seinem Titel nicht gerecht.
Dario Azzellini (Berlin)